Geschichte

Geschichte des Movimento dos Sem Terra

Unter den verschiedenen Ursachen für die Entstehung des Großgrundbesitzes und der heute immanenten ungleichen Landverteilung in Brasilien, lassen sich einzelne Entwicklungslinien bis zur „Entdeckung“ Brasiliens und der folgenden Kolonisierung
zurückverfolgen. Im Laufe der 500 jährigen brasilianischen Geschichte gab es verschiedene Widerstandsbewegungen gegen ungleiche Machtverhältnisse wie die „Quilombos“ – Siedlungen der entflohenen Sklaven, „Canudos“ – einer Robin Hood Geschichte im Nordosten, den Bauernvereinigungen (Ligas Camponesas), der
Guerillhabewegung von Araguaia und vielen mehr. Das MST versteht sich in diesem historischen Zusammenhang im weitesten Sinne als Nachfolger dieser Widerstandsbewegungen. Auch der Ruf nach einer Agrarreform hat eine lange Tradition in Brasilien.

Im Jahr 1961 tritt der Präsident Jânio Quadros zurück, nachdem seine sozialen Reform auf zu heftigen Widerstand des In- und Ausländischen Kapitals stößt. Er wird durch João Goulart abgelöst. Seine Reformvorschläge sind noch tief greifender und er verspricht mit Hilfe der Gewerkschaften die ökonomischen und sozialen Verhältnisse im Land umzukehren. Insbesondere die Erwartungen auf eine sozialistische Agrarreform werden geschürt.

Wie in den meisten lateinamerikanischen Ländern wurde nach der Wahl dieser „links-orientierten“ Regierung auf einen Umsturz hingearbeitet und es kam im Jahr 1964 zu einem Militärputsch. Ironischerweise wurde im gleichen Jahr unter dem „Präsidenten“
Generalstabschef Castelo Branco das erste Gesetz zu einer Landreform erlassen: das „Bodenstatut“. Progressiv formuliert wurde darin der „soziale Nutzen“ des Bodens festgeschrieben. Trotz verschiedener Landkonflikte wurde dieses Gesetz jedoch
nicht angewandt um große Ländereien zu enteignen sondern mehr um die bisher unerschlossenen Gebiete im Norden und Nordosten des Landes in großem Rahmen zu erschließen zu besiedeln und mit der indigenen Bevölkerung „aufzuräumen“.

Ansonsten zeichnete sich die Diktatur durch starke Repressionen gegenüber den Arbeiter und Landarbeiterbewegungen aus. Gleichzeitig kam es aber zu der Zeit zu ersten vereinzelten und unabhängigen Landbesetzungen. Wichtig im Zusammenhang der
brasilianischen Landfrage und dieser ersten Besetzungen ist die Gründung der katholischen „Comissão Pastoral da Terra“ (CPT, Kommission der Landpastorale) im Jahr 1975. Der progressive Arm der katholischen Kirche war eines der Zentren des Widerstandes gegen die Diktatur.

Die 70er Jahre in Brasilien waren geprägt von immer stärkerem Widerstand gegen die Diktatur insbesondere durch die Arbeiterbewegungen in den Städten; der aktuelle Präsident Brasiliens „Lula“ war zu dieser Zeit entscheidend an diesen Mobilisierungen beteiligt. Nach Außen durchlief Brasilien durch intensive Mechanisierung im Bereich der Landwirtschaft, einer starken Exportorientierung und immenser Staatsverschuldung eine
Phase des Wachstums. Dieses Wachstum kam jedoch nur wenigen zugute. Als ehrseite stieg im Inneren die Arbeitslosigkeit und eine extreme Landflucht von den armen ländlichen Gebieten in die Städte setzte ein.

Ironischer Weise war eines der Prestigeprojekte, der Bau des damals größten Staudammes der Welt in Itaipu, entscheidend für die Gründung des MST. Viele derer welche ihr Land wegen dieses Staudammes ohne Schadensersatz verloren hatten fanden sich auf dem ersten Treffen 1984 des MST in Cascavel, Paraná, wieder. Dort wurde insbesondere die Notwendigkeit der Besetzung von Ländereien als legitimem Mittel der LandarbeiterInnen bekräftigt und die Idee einer ganzheitlichen Bewegung mit klaren politischen Vorstellungen entstand.

Unter der Übergangsregierung von João Baptista Oliveira Figueiredo (1979-85) werden die diktatorischen Maßnahmen stückweise aufgehoben und es kommt zur „abertura“ der Öffnung zur Demokratie. Noch 1985, im Kontext der Kampagne „Diretas Já“ (Wahlen sofort), hielt das MST seinen I. National Kongress in
Curitiba, Paraná, unter dem Motto „Besetzung ist der Einzige Weg“ ab.
1985, den ersten freien Wahlen seit 1964, wird Tancredo de Almeida Neves zum Präsidenten gewählt. Dieser stirbt noch vor Amtsantritt und José Sarney wird sein Nachfolger. Er verabschiedet im gleichen Jahr eine Agenda zu Nationalen
Landreform mit dem Ziel bis zum Ende der Amtszeit Grundstücke für 1,4 Millionen Familien zur Verfügung zu stellen. Wieder mangelte es an der Umsetzung und nur 6% dieses Versprechens wurde erfüllt.

Vor dem Hintergrund der Verfassungsgebenden Nationalversammlung begannen auch die Großgrundbesitzer sich zu organisieren (UDR – União Democrática Ruralista) um ihre Lobby im künftigen Parlament und in den Medien zu stärken während gleichzeitig die Privatmilizen auf dem Land ausgebaut wurden.

Das MST und andere Landarbeiterbewegungen schafften es in der neuen Verfassung (§184, §186) den „sozialen Nutzen“ des Bodens zu verankern und gegebenenfalls das entsprechende Grundstück zu enteignen und der Landreform zur Verfügung zu stellen. In diesem Zeitraum entstanden auch die aktuelle Organisationsstruktur und die Symbole des MST.

Der nächste Präsident des Landes, Fernando Collor (1989), war ein entschiedener Gegner der Landreform. Für das MST hieß dies Repression, gewaltsame Vertreibungen durch die Militärpolizei, Morde und willkürlichen Festnahmen. Unter dem Motto „Besetzen, Widerstand leisten und Produzieren“ fand der II. Nationalkongress
in Brasilia statt. Thema waren die interne Organisationsstruktur und Formen der Ausweitung auf andere Gebiete in Brasilien. Fernando Collor erklärt den Staatsbankrott; insgesamt leidet Brasilien unter einer horrenden Staatsverschuldung, extrem hoher Inflation und einer anhaltenden Wirtschaftskrise. Aufgrund einer
Korruptionsaffäre wird Collor gestürzt und Itamar Franco übernimmt das Amt.

1994 gewinnt Fernando Enrique Cardoso mit einem neoliberalen Programm die Wahlen. Um die Lasten der hohen Staatsverschuldung tragen zu können wird die Landwirtschaft rigoros auf den Export getrimmt und die eigene Nahrungsmittelproduktion vernachlässigt. Im nachfolgenden Jahr hält das MST seinen III. National Kongress in Brasilia. Die Dringlichkeit einer Agrarreform wird bestätigt. Gleichzeitig wird erkannt, dass die Auseinandersetzung um eine solche Reform
keinen Erfolg haben würde solange sie auf dem Land ausgefochten wird und nicht in die Städte und an die Politik herangetragen würde. Das Motto lautet „Agrarreform, ein Kampf aller“.

Im Jahr 1997 geschieht der “Demonstrationsmarsch für Arbeit, Gerechtigkeit und eine Agrarreform” aus allen Landesteilen in Richtung der Hauptstadt Brasilia. Gleichzeitig sollte dieser an das Massaker von „Eldorado de Carajás”, im Bundesstaat Pará ,
erinnern, bei welchem genau ein Jahr zuvor 17 Landlose auf dem Weg zu einer Demonstration durch die Polizei erschossen wurden.Im Jahr 2000 fand der IV National Kongress unter dem Motto “Für ein Brasilien ohne Großgrundbesitz” statt und das bis heute geltende politische Programm des MST wird verabschiedet.

Brasilien hat 8 Jahre unter dem neoliberalen ökonomischen Modell unter Fernando Enrique Cardoso gelitten. Infolge dessen die Armut und sozialen Unterschiede im Land, die Landflucht und der Mangel an Arbeit und Land zugenommen haben. Die Wahl Lulas im Jahr 2001 bedeutete ein Sieg des brasilianischen Volkes gegenüber den
herrschenden Eliten. Doch sogar dieser Wahlsieg hat nicht ausgereicht grundlegende Veränderungen in der Besitzverteilung auf dem Land und dem vorherrschenden Agrarmodell zu bewirken. Es weiterhin unbedingt nötig sich für ein Agrarmodell einzusetzen, welches die Lebensmittelproduktion und eine gerechtere
Einkommensverteilung ermöglicht.

Heute, 21 Jahre nach seiner Gründung versteht sich das MST als soziale Bewegung dessen Aufgabe es ist die arme Landbevölkerung zu organisieren, sie ihrer Rechte bewußt zu machen und sich für Veränderung einzusetzen. In den 23 Staaten in denen das MST aktiv ist, kämpft das MST nicht nur um eine Agrarreform sondern
für die Umsetzung einer Vorstellung Brasiliens für das Volk, welche sich auf soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde stützt.

Übersetzt und Ergänzt von der Seite www.mst.org.br am 4.Juli 2006. Der Originaltext basiert auf Informationen aus dem Buch: „A história da luta pela terra e o MST“, Mitsue Morissawa, Editora Expressão Popular, 2001.