Der Kampf geht weiter: 25 Jahre Landlosenbewegung Movimento dos Sem Terra
Auf der Nationalversammlung anlässlich ihres 25jährigen Bestehens gibt sich die Landlosenbewegung Brasiliens kämpferisch und selbstbewusst. Die aktuelle Wirtschaftskrise wird als eine Chance für die Bewegung wahrgenommen und als Bestätigung für die Notwendigkeit ihres alternativen Entwicklungsmodells. Trotz neuer Herausforderungen in der Landfrage, einem politisch schwierigen Umfeld und interner Probleme der letzten Jahre, gibt sie sich optimistisch und sucht nach strategischen Allianzen für eine Zeit nach Lula.
An der Straße vor den Toren der Fazenda Anoni, wo die Jubiläumsfeier stattfand, hatte schwer bewaffnete Militärpolizei Stellung bezogen und die teilnehmenden Personen kontrolliert. Knapp 2.000 Delegierte waren aus ganz Brasilien zur 13. Nationalversammlung der Landlosenbewegung vom 20.-24. Januar 2009 angereist. Trotz der Militärpräsenz wurde das Treffen aber auch zu einer Feier, die mit einer Mística anlässlich des 25jährigen Bestehens eingeleitet wurde. Diese Mística, eine spezielle Form der Selbstdefinition der MST, war eine Reise durch die Geschichte Brasiliens und ihrer größten sozialen Bewegung vor dem Hintergrund der zentralen Frage Brasiliens: Landverteilung. Auch persönliche Erfahrungen Einzelner in der Bewegung – geprägt von Landbesetzungen und einem harten Leben in beständiger Unsicherheit unter dem Plastikzelt, kamen in dieser Mística zum Ausdruck. Dem zum Trotz werden abschließend diejenigen 24 Bundesstaaten mit Stolz genannt, in welchen die MST bereits erfolgreich Land besetzt hat.
Die Wahl des Tagungsortes – die Fazenda Anoni in Sarandi – ist symbolträchtig: Hier fand 1985 die erste erfolgreiche Landbesetzung unter dem Banner der MST statt. Nach vielen Monaten Zeltlager unter Plastikplanen am Straßenrand hatten mehr als 8.000 Menschen über Nacht diesen Großgrundbesitz besetzt. Dies sollte der Ausgangspunkt für die Erfolgsgeschichte der brasilianischen Landlosenbewegung MST werden. Die Fazenda Anoni ist der Ort, an dem ihre Organisationsprinzipien erprobt wurden. Es ist auch der Ort, an dem der Grundstein für die zentrale Rolle der Erziehung in der Bewegung gelegt wurde, als noch im Zeltlager am Straßenrand die erste Schule eingerichtet wurde. Aber es ist auch ein Ort voller Geschichten über Schikanen und Übergriffe der Militärpolizei und der Ort der ersten Toten der Bewegung – Roseli Nunes, Mutter und Führungsfigur. Während einer Demonstration wurde sie von einem voll beladenen Lastwagen überrollt, der im Auftrag eines benachbarten Großgrundbesitzers in die Menschenmenge raste.
Aber die Fazenda Anoni ist auch ein symbolträchtiger Ort für die aktuellen Konflikte mit den Regierenden: Über Jahrzehnte war der Bundesstaat Rio Grande do Sul Vorbild für eine enge Zusammenarbeit mit der regierenden Arbeiterpartei. Seit Yeda Crusius von der Brasilianischen Sozialdemokratischen Partei PSDB im Jahre 2007 Gouverneurin des Bundesstaats wurde, ist die Atmosphäre in Rio Grande do Sul wieder angespannt. „Diese Regierung verfolgt eine antidemokratische Strategie, die MST in Rio Grande do Sul zu kriminalisieren“, sagt der Kapuzinermünch Frei Pilato Pereira. „Mehr als zwei Jahrzehnte nach Ende der Militärdiktatur herrschen in den Köpfen der Regierung Yeda sowie bei Teilen der Justiz immer noch Vorstellungen aus der Zeit der Militärtyrannei vor“, erbost sich Pereira.
Anfang Februar wurden mehrere Schulen der Landlosenbewegung mit dem Argument geschlossen, die nationale Sicherheit zu gefährden: Die Polizei hatte in den Schulen Bücher von Paulo Freire und Florestan Fernandes gefunden. Eine dieser Schulen ist die Escola Itinerante. „Wenn wir in den MST-Ansiedlungen rumfragen würden, wer Lesen und Schreiben in der Escola Itinerante der MST gelernt hat, würden wir mit Sicherheit Tausende finden“, so Pereira.
Diese Aussage macht deutlich, was die MST im Verlauf der Jahre erreicht hat: Landbesetzungen und Ansiedlungen ebenso wie auch Bildung und Alphabetisierung. Und so wurde auch auf der viertägigen Versammlung schnell deutlich: Die MST ist bereit für weitere 25 Jahre Kampf und Widerstand – auch wenn der Kampf für eine gerechte Landreform in Brasilien heute schwerer denn je scheint. Angesichts der auch in Brasilien sich bemerkbar machenden Krise gibt sich die MST aber kämpferisch und selbstbewußt. „Es ist Zeit, die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen wieder gemeinsam in Angriff zu nehmen“, so João Pedro Stédile, einer der zentralen Führungsfiguren im MST. Für Stédile ist die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise vielmehr eine Chance für die brasilianische Linke, wenn der Zusammenbruch des vorherrschenden kapitalistischen Entwicklungsmodells die zuletzt verunsicherte und zersplitterte Linke in Brasilien wieder unter dem Banner des Sozialismus vereinen werde. Mit solch kämpferischen Aussagen wird klar: Strategisch bereitet sich die MST damit bereits auf eine Zeit nach Lula vor – in der Erwartung, dass sich die parteipolitische Landschaft Brasiliens nicht wandeln wird. Vielmehr werden die Differenzen mit der nachfolgenden Regierung zunehmen. Ohne den allseits beliebten, aber von den Bewegungen gleichwohl heftig kritisierten Lula werde es jedoch wieder leichter, die brasilianische Linke zu einen und eine eindeutige und damit einflussreiche Position in der brasilianischen Gesellschaft einzunehmen, so Stédiles Hoffnung. Die Bewegung braucht Allianzen jenseits eines Projektes der Agrarreform.
Auch für die Landfrage – als das zentrale Anliegen der MST – stellt die internationale Finanzkrise nun auch eine Chance dar, so Stédile. Während weltweit Ratlosigkeit und Verunsicherung herrscht, argumentiert Stédile, komme gerade jetzt ihr nachhaltiges Modell einer Agrarreform zum Tragen. Die MST setzt auf eine Landwirtschaft, in welcher ein großer Teil der Bevölkerung von der Subsistenzwirtschaft lebt. Statt auf immense Sozialhilfeleistungen der Regierung angewiesen zu sein, sichert so die arme Bevölkerung die Ernährungssouveränität. Gilmar Mauro, ebenfalls aus der Führungsriege der MST, macht deutlich, dass die MST “selbst ihr Konzept für eine Agrarreform geändert hat. Ursprünglich galt es, die feudalen Strukturen auf dem Land zu überwinden. Ohne diese Aufgabe, die landwirtschaftlichen Flächen unter vielen gerechter zu verteilen, ist eine Agrarreform auch heute nicht möglich. Aber die Agrarreform hat einen neuen Aspekt hinzu bekommen. Sie propagiert ein landwirtschaftliches Produktionsmodell ökologisch-gesunder Lebensmittel, ohne dabei die Umwelt zu zerstören.”
So sieht die MST auch für die Zukunft ihr ländliches Entwicklungsmodell bestätigt. Es ist nicht von knapper werdenden Ressourcen, steigenden Ölpreisen und der Konjunktur internationaler Konzerne abhängig, da es zum einen auf dem Ausbau regionaler Strukturen ohne lange Transportwege fußt und zum anderen nicht auf chemische Düngemittel, Herbizide und Pestizide angewiesen ist.
Doch auch an Kritik wird nicht gespart: Juraci Portes, Leiter der Bewegung im Bundesstaat Espirito Santo weist auf die oft mangelnde Bereitschaft der Landbesetzer hin, sich auch nach dem Erwerb eines eigenen Stück Lands für die Bewegung einzusetzen. Eine weiterführende aktive Mitgliedschaft, der Ausbau bewegungseigener Schulen und auch die Umsetzung der praktischen Ideen, wie z. B. die kooperative Produktions- und ökologische Lebensweise, geraten so ins Stocken, sobald die Landbesetzung erfolgreich war, meint Portes. Er macht dafür auch die in seinen Augen assitenzialistische Politik Lulas verantwortlich. Der Präsident ist bei vielen niedergelassenen Mitgliedern der MST beliebt, obwohl diese Regierung den Ausbau einer agroindustriellen und exportorientierten Agrarpolitik vorantreibt und – statt Arbeitsplätze für die einfache Bevölkerung – zur Beruhigung der Massen den Ausbau der Sozialprogramme fördert, so Portes. Die immer noch hohe Popularität der Regierung Lulas sei auch innerhalb der Bewegung zu spüren. Dagegen gelte es, die “korrumpierende und schleichende Erziehung der Gesellschaft zu verstehen und zu reflektieren”, meint Isabel Grain, die seit der Gründung im Bildungsbereich der Bewegung aktiv ist. Aber trotz rhetorischer und argumentativer Überzeugungskraft ist die ideologische Bildung der Bewegung und ihrer Mitglieder außerhalb der Zeltlager schwer umsetzbar und damit nur noch bedingt wirksam.
Demonstrativ werden zu Beginn der abschließenden Mistica der 13. Nationalversammlung die Macheten geschliffen und revolutionäre Lieder gesungen. Dann jedoch werden sie abgelöst durch Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder, die gemeinsam ökologische Lebensmittel vorzeigen. Die MST hat eine klare Vorstellung von einer ländlichen Entwicklung, sie hat die Erfahrung, dass diese möglich ist – und sie ist weiterhin bereit und fähig, dafür zu kämpfen. Während dieser Mistica sitzen auch Gouverneure, Senatoren, Gewerkschaftsführer und Intellektuelle auf dem Podium, klatschen Beifall und verdeutlichen den politischen Einfluss dieser Bewegung, auch wenn sie andernorts äußerst unbeliebt bleibt. Auch wenn diese 13. Nationalversammlung immer noch unter dem konzilianten Motto des 5. Nationalkongresses von 2007 „Agrarreform: Für soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung des Volkes!“ steht, so formuliert die nun verlesene Abschlusserklärung deutlicher und schärfer die Ziele und Forderungen der MST: Widerstand, Agrarreform und Sozialismus. Die Bewegung blickt optimistisch nach vorn.
Autor: Benjamin Bunk