„Eine andere Gesellschaft ist möglich“. Interview mit Isaias Vedovatto von MST

Seit Jahrzehnten treiben die sozialen Bewegungen Lateinamerikas den sozialen Umbruch voran. Die neuen linken Regierungen werden teilweise darauf zurückgeführt. In Brasilien ist das Verhältnis der MST zur Regierung angespannt und der erhoffte soziale Wandel der Gesellschaft noch weit entfernt. Doch was soll sich überhaupt wandeln und vor allem wie und warum? Vor welchen Herausforderungen sieht sich diese Bewegung auf ihrem Weg zu einer Agrarreform heute?

In diesem Interview erläutert Isaias Vedovatto das Selbstverständnis der Bewegung vom sozialem Wandel. Er ist seit der ersten Landbesetzung der Movimento dos Sem Terra dabei, in diversen Führungsgremien aktiv, und von 1999 bis 2004 als Vertreter der Bewegung in der Landesregierung von Rio Grande do Sul tätig.  (Auszüge; in ähnlicher Form erschienen in der Lateinamerika Nachrichten , 418, April 2009)

B: Guten Tag Isaias! Wir sind hier anlässlich des 25 jährigen Bestehens der Movimento dos Sem Terra. Wie bist du damals zur MST gekommen?

Isaias: 1962 wurde in dieser Region, durch die damalige Landesregierung, ein großes Gebiet namens Fazenda Sarandi enteignet. Damit wurden Siedlungen für circa 1000 Familien geschaffen. Auch mein Vater erhielt damals ein Stück Land, auf welchem ich aufwuchs. Aber kurz nach dem Militärputsch 1964 wurde dieser Prozess einer Landreform gestoppt. Ende der 70er Jahre, mit der Krise der Landwirtschaft, der Gesellschaft und des Entwicklungsmodells, entstand eine große Demokratie-Bewegung welche die gesamte Gesellschaft einschloss und veränderte. Zur gleichen Zeit entstand das Zeltlager an der “Encrucilhada Natalina”, einer der Meilensteine der Bewegung. Da meine Familie in der Nähe wohnte war es klar, dass wir begannen diese Leute zu unterstützen. Auf der Rückkehr von der ersten Nationalversammlung 1984 begannen wir die Besetzung im Gebiet Sarandi vorzubereiten. Ich selbst bin auf diesem Gebiet in einer Kooperative angesiedelt.

B: Du warst selbst in der Politik aktiv. Wie ist das Verhältnis der Bewegung zur institutionalisierten Politik heute?

Isaias: Ich meine, dass die Bewegung es bis heute immer geschafft hat ihre Autonomie gegenüber der Politik, den Gewerkschaften und anderen Bewegungen zu wahren. Aber – zumindest in der Zeit vor der Wahl Lulas – hat die brasilianische Linke immer eine gewisse nationale Verbundenheit empfunden. Man glaubte an Veränderungen und hatte eine gemeinsame Strategie, um den sozialen Wandel voranzutreiben.

Hier in Rio Grande do Sul, gab es damals eine der ersten linken Regierungen von der wir dachten, sie würde etwas bewegen. Wir kamen zu dieser Einschätzung auf Landesebene, aber immer im Hinblick auf einen nationalen Umbruch. Daher entschloss sich die Bewegung, drei bis vier Leute freizustellen um dauerhaft mit der Landesregierung zusammenzuarbeiten.

Heute nehmen wir die Situation natürlich anders wahr. Ich glaube, die Erfahrung die wir hier und in anderen Staaten sammeln konnten, half uns schon während der Phase der Regierungsbildung von Lula abzuwägen, dass wir bei dieser Regierung nicht mitmachen werden.

B: Aber gab es dieses Angebot von Seiten Lulas?

Isaias: Natürlich. Zur ersten Amtszeit gab es eine große Bereitschaft. Aber wir erwarteten in gewisser Weise das, was letztlich passiert ist. Wir kamen zu der Ansicht, die Bewegung sollte eine andere Rolle einnehmen. Wir können viel mehr zu einem sozialen Wandel beitragen, solange wir nicht in die Regierung eingebunden sind. Meiner Meinung nach war es die richtige Entscheidung und mit ein Grund weshalb unsere Bewegung bis heute existiert. Hätten wir bei der Regierung Lulas mitgemacht, hätten wir uns ebenso angepasst und wären instrumentalisiert worden wie andere soziale Bewegungen Brasiliens.

B: Aber welchen Beitrag hat die MST in der brasilianischen Gesellschaft geleistet?

Isaias: Zunächst ist die MST die einzige bäuerliche Widerstandsbewegung in 500 Jahren brasilianischer Geschichte welche überhaupt 25 Jahre überlebt hat. Aber unser Beitrag ist viel grundsätzlicher als nur die Thematisierung der Landfrage.

Meiner Meinung nach ist der wesentliche Beitrag unsere Erfahrung – für die Linke und die Gesellschaft. Die Erfahrung, dass ein kollegialer und kollektiver Organisationsprozess möglich ist. Die Erfahrung, dass Emanzipation der Menschen möglich ist. Und letztlich die Erfahrung, dass es möglich ist, eine andere Gesellschaft zu gestalten. Eine Gesellschaft, in welcher das soziale Interesse über den Interessen des Einzelnen steht.

Zudem bewirkt die Bewegung eine Rückbesinnung auf Werte in einer Zeit, die durch den zunehmenden Werteverfall geprägt ist. Ich meine menschliche Werte wie Solidarität, Bescheidenheit oder Unbestechlichkeit, welche durch das kapitalistische Modell zertreten werden.

B: Und die nächsten 25 Jahre?

I: Ich denke, um die nächsten 25 Jahre fortzubestehen, muss sich die Bewegung ändern. Sie kann nicht so bleiben wie sie war. Die Bewegung schafft es durchaus, die Agrarreform voranzutreiben, aber im Grunde setzt diese eine tief greifende Veränderung der Gesellschaft voraus. Solange sich die Bewegung nur für eine Agrarreform einsetzt, wird sie keinen Frieden finden und überleben. Um einen Umbruch der Gesellschaft und der Wirtschaftsform voranzutreiben, muss sie sich aber notwendigerweise öffnen, mit anderen verbünden, sich deren Anliegen aneignen und in größeren Dimensionen denken. Mit mehr Konsistenz müssen wir gemeinsam ein anderes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell entwickeln.

B: Welches sind auf diesem Weg die größten Herausforderungen in der Bewegung, um in Bewegung zu bleiben?

Isaias: Die größte Herausforderung, die wir heute haben, ist die politische Bildung. Wir brauchen fähige Mitglieder, die mehr als nur die Agrarreform verstehen. Sie müssen eine Ahnung von der Funktionsweise der Gesellschaft haben.

Die andere große Herausforderung ist, in der Gesellschaft unsere Rolle als Landlose und Bauern zu überwinden, wenn wir der Gesellschaft ihre Widersprüchlichkeit aufzeigen wollen. Es gibt heute keine großen Mobilisierungen mehr. Die Leute leben in einer bequemen Zeit. Sie erwarten, dass irgendjemand etwas für sie macht. Die Gesellschaft selbst wird nicht als Subjekt wahrgenommen. Unsere zentrale Rolle ist es, die Gesellschaft und die Massen zu beleben und aufzuwühlen. Erst dann wird es möglich sein, dass zu machen, wovon ich geredet habe: gemeinsam eine neue Gesellschaft gestalten.

B: Und welche Rolle spielt dabei der Sozialismus?

Isaias: Ich denke, in Brasilien gibt es eine sehr oberflächliche, abgedroschene Vision dessen, was Sozialismus ist. Natürlich kennen die Leute die Erfahrungen in anderen Ländern, aber ohne Inhalt. Die eigentliche Frage ist nicht die des Sozialismus. Dies ist nicht die fundamentale Frage der Bewegung. Ich denke, dass das eigentliche Thema  die brasilianische Revolution ist.

Was bedeutet ein fundamentaler Wandel der Gesellschaft? So?, dass die Arbeit, das Sein, das Individuum oder der Mensch im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung steht und nicht nur bloß eine Ware oder Ressource ist. Wie ist das möglich? Es geht um die Art und Weise, wie sich Menschen organisieren. Meiner Meinung nach gibt es darauf eine länderspezifische Antwort, denn jedes Land hat seine eigene Realität. Unser Problem ist, dass immer Bedingungen geschaffen wurden, um das Kapital einiger weniger zu mehren und nicht die gesamte Gesellschaft und ihre Menschen zu fördern. Meines Erachtens hat Brasilien verschiedene Möglichkeiten, um sich zu entwickeln und es hat viel Erfahrung in seiner Geschichte angesammelt. Wie setzt man diese Erfahrungen um? Dafür brauchen wir Bildung.

B: Was verstehst du unter „formação“, unter Bildung?  (20.16)

Isaias: Wenn ich von Bildung spreche, meine ich etwas Tiefergehendes als das, was man allgemein hat. Im Zusammenhang dieses Interviews ist es das, was wir schon sind. In unseren Schulen und Kursen sind wir bereits dabei dieses Sein zu konstruieren.

Die Frage ist, wie wir dies über unsere Leute hinaus vermitteln? Wie gelangt man an den Punkt, dass die Gesellschaft uns versteht und sich unsere Erfahrungen aneignet? Ich meine damit unsere Erfahrungen mit Unterrichtsmethoden, mit gemeinschaftlichen Lebensformen, der kooperativen Nutzung von Maschinen, der gemeinschaftlichen Vermarktung unserer Güter oder dem solidarischen Technologietransfer.

Eine Sache ist unsere Wahrnehmung. Eine gänzlich andere ist, wie die Gesellschaft zu der Wahrnehmung gelangt, dass dies auch für sie nützlich und wichtig sein könnte. Auch das meine ich, wenn ich von Bildung spreche. Unsere Vision ist weit mehr als nur eine bäuerliche Sicht auf die Gesellschaft, es geht um die Form der Gesellschaft.

B: Und in diesem Zusammenhang, welche Rolle hat die „militancia“, der politische Aktivismus, für die Bewegung?

Isaias: Der politische Aktivismus in Brasilien ist in Auflösung begriffen. Die Arbeiterpartei (PT) hat die Idee des Klassenkampfes hintergangen. Der Linke Widerstand insgesamt ist demotiviert. Viele haben sich korrumpieren lassen. Die Linke ist in der Krise und dies spürt die MST auch.

Natürlich gibt es engagierte Leute. Aber es sind wenige und die Möglichkeiten dieses Engagement bei vielen zu wecken ist begrenzt. Solange wir uns nur darum bemühen, unsere Kooperativen, unsere Zeltlager und Siedlungen oder Leute für Besetzungen zu organisieren – was wir trotzdem machen müssen – werden unsere Möglichkeiten und Erfolge immer durch das Kapital beschränkt sein. Das ist frustrierend. Unsere Aktivitäten richten sich daher auf die Debatten mit den anderen Sektoren und den öffentlichen Raum, den wir errungen haben. Deshalb brauchen wir auch die internationale Perspektive und eine globale Bewegung des Wandels. Die Bewegung hat in den letzten Jahren erkannt, dass eine brasilianische Revolution nicht in einem isolierten nationalen Kontext möglich ist. Wir müssen enger zusammenarbeiten als wir dies die letzten 25 Jahre gemacht haben. Ich denke, dass wir viele Gemeinsamkeiten mit der Ökologiebewegung, mit Umweltbewegungen im Allgemeinen oder auch mit städtischen Bewegungen haben. Es geht um ein gemeinsames Nachdenken über gesellschaftlichen Wandel.

Interview und Übersetzung: Benjamin Bunk

 

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