Kommentar von Benjamin Bunk, erschienen In: Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika (ila), Nr. 339, S. 18-21.
Lula ist 2002 mit dem Versprechen angetreten, die Agrarreform in Brasilien umzusetzen. Ein Präsident, der mit der Movimento dos Sem Terra (MST) verhandelt und deren Mütze öffentlich trägt: Das schürt Erwartungen!
Gleich zu Beginn der Amtszeit wurde ein nationaler „Plan zur Umsetzung der Agrarreform“ verabschiedet mit der konkreten Vorgabe, 540 000 Familien neu anzusiedelnden und einen Großteil der nicht geregelten Besitzrechte von Ribeirinhos (Flussanrainern) und Quilombolas (BewohnerInnen der quilombos, der ehemaligen Siedlungen entlaufener SklavInnen) zu legalisieren. Doch diese Vereinbarung wurde nur zu einem Drittel erfüllt und nach deren Auslaufen 2007 nicht weiter verlängert. Auch das Vorgehen gegen „sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen“ wurde verschärft und intensiviert sowie der Versuch gestartet, über Bundesbehörden Einfluss auf die faktische Straflosigkeit in einigen Bundesländern auszuüben. Auch diese Maßnahmen waren nur bedingt erfolgreich, wie die aktuellen Zahlen der Kommission der Landpastoral (CPT) zu Landkonflikten zeigen.
Mit diesen und anderen Maßnahmen sollten die Rahmenbedingungen für das gesellschaftliche Ringen um die Landfrage politisch garantiert und eine demokratische Auseinandersetzung dieses spannungsgeladenen Themas ermöglicht werden.
Doch auch die Regierung Lula selbst war Teil dieses politischen Spiels. Lula war von Beginn an auf Koalitionen und wechselnde Mehrheiten angewiesen und durch den brasilianischen Föderalismus beschränkt. Auch Judikative und Legislative wurden durch die Agrarlobby eifrig genutzt. Die letzte parlamentarische Untersuchungskommission gegen die MST war eine Reaktion auf Lulas Ankündigung, den Produktivitätsindex für die landwirtschaftlich nutzbare Fläche seit den 70er Jahren zu aktualisieren – die Voraussetzung für eine grundgesetzkonforme, flächendeckende Agrarreform und Enteignung von Flächen „ohne sozialen Nutzen“.
Bei einer Bewertung der Regierungszeit Lulas sollte man aber nicht vergessen, dass die Agrarpolitik Lulas grundsätzlich auf eine Modernisierung und den Ausbau der großflächigen, exportorientierten Landwirtschaft angelegt war. Dieses Ziel wurde erreicht und wird sich unter Dilma nicht ändern. So ist Brasilien inzwischen weltweit führender Exporteur von Soja. Auch die Zuckerrohr-Ethanol-Produktion und Eukalyptus-Zellulose-Produktion hat enormen Zuwachs. Land ist teuer und knapp geworden, mit der Konsequenz, dass andere Agrarprodukte immer rasanter in den Cerrado und das Amazonasgebiet eindringen.
Weltweit führend ist Brasilien auch weiterhin in der Ungleichverteilung von Land. Einige fatale Folgen dieser Politik sind jedoch nur im Zusammenhang mit globalen Entwicklungen wie dem Ausbau der Gentechnik, dem Biomasseboom und der zunehmenden Monopolisierung im Agrarwelthandel zu bewerten.
Anhand der Widersprüchlichkeit der Agrarpolitik Lulas wird eines deutlich: Die Agrarreform ist keine Strukturpolitik im Sinne einer alternativen ländlichen Entwicklung oder eines anderen brasilianischen Entwicklungskonzeptes. Lulas Politik ist die Fortführung liberaler Modernisierung auf dem Land – mit sozialem Anstrich.
Die Maßnahmen Lulas lassen sich einerseits mit dem äußerst erfolgreichen parteipolitischen Kalkül erklären, in einem solch heterogenen Land wie Brasilien alle auch noch so widersprüchlichen gesellschaftlichen Interessen in kleinen Teilen zu bedienen und somit an der Regierung zu bleiben. Vor allem aber ist die Agrarreform unter Lula zu einem Bestandteil seiner assistentialistischen Sozialpolitik verkommen: Die Landlosenbewegung wird genau in den Bereichen und in dem Umfang unterstützt, wie sie ihre soziale Funktion für die Mitglieder der Bewegung erfüllt, den Staat aus seiner sozialen Verantwortung entlastet und spezifische gesellschaftliche Konflikte lindert. So wurden alle im Zuge der Agrarreform enteigneten Großgrundbesitzer für ihre Verluste großzügig entschädigt. Zugleich wurden aber die erfolgreichen (und kostengünstigen) Schulen der MST weiter gefördert. Auch wurde die Abnahme von Lebensmitteln der kleinbäuerlichen Landwirtschaft so weit garantiert, wie sie Arbeitsplätze erhält und verhindert, dass diese Bauern plötzlich vom Anbieter zum Empfänger der Nahrungsmittelkörbe werden. Die großen neuen Siedlungen der Landlosenbewegung im Nordosten und Amazonasgebiet sind ebenfalls gezielte Maßnahmen, um die kompetenten Sozial- und Gemeindearbeiter der MST zu nutzen, um die ausufernden Slumgebiete der dortigen Städte zu entlasten.
Allerdings: Wenn auch die Landlosenbewegung stärkste zivilgesellschaftliche Kraft in Brasilien ist, so steht sie doch auch vor dem Problem nur 15 Prozent der Landbevölkerung mit ihren Themen anzusprechen. Und auch wenn noch 200 000 Familien in Zeltlagern dringenden Handlungsbedarf signalisieren, so ist der Druck nicht derselbe wie früher. Für die MST wird es immer schwieriger, Leute für Besetzungen zu gewinnen, demgegenüber steht inzwischen aber eine junge Generation an Landlosen aus den eigenen Siedlungen bereit. Doch längst nicht alle jugendlichen MSTleInnenr sind für das Leben auf dem Land zu begeistern. Die Verlockungen einer idealisierten Moderne und persönlichen Erfolgs in den Städten ist groß.
Die MST bleibt in Bewegung: Sie setzt mit ihrem aktuellen Projekt einer Agrarreform auf ökologisch produzierte Nahrungsmittel (auch im Hinblick auf eine wachsende Mittelschicht) und eine dezentrale Strukturpolitik auf dem Land. Von einem gesellschaftlichen Umbruch kann aber unter dieser Regierung, vor allem aber mit den momentan in der Gesellschaft vorherrschenden Interessen und dem Mangel an politischem Bewusstsein nicht die Rede sein.
Der Autor ist Mitglied der FreundInnen und Freunde der brasilianischen Landlosenbewegung MST, Deutschland, e.V. und des Eine Welt Netzwerkes Thüringen e.V.. Er promoviert an der Universität Jena zur Bildungstheorie der Landlosenbewegung und des Weltsozialforums.