„Die Putschisten haben gezeigt, was sie im Schilde führen“ (Stédile Mai 2016)

Im Mai 2016, nach der Amtsenthebung Dilmas und vor Abschluss des Verfahrens, hat João Pedro Stédile in Brasil de Fato, die aktuelle politische Lage kommentiert. Nachfolgend die Übersetzung und ein kurzer Kommentar von Benjamin Bunk. Erschienen zuerst im: Forschungsjournal Soziale Bewegungen (Pulsschlag), H. 3, Jg. 29.

João Pedro Stédile (übers. aus Brasil de Fato, 23 Mai 2016)

Für Brasilien und die Welt sollte sich die wahre Natur dieser unrechtmäßigen Regierung rasch offenbaren. Es reichten ein paar Tage, gar Stunden nur, bis die Putschisten ihre neuen Posten übernahmen und damit ihre Absichten deutlich machten.

Eigentlich hat der Senat Präsidentin Dilma Rousseff nur vorübergehend ihres Amtes enthoben und unseren lieben Herrn Michael Temer als Übergang installiert. Ja, es gibt sogar Juristen, die der Meinung sind, dass der Übergangspräsident – wenn man es ganz genau nimmt mit der Verfassung – Ministerien gar nicht neu besetzen und sich auf Verwaltungsakte beschränken sollte. Doch die Verfassung zu respektieren, ist so ziemlich das Letzte, was die Putschisten und das überaus verständnisvolle Oberste Bundesgericht [zugleich Verfassungsgericht, Anm. d. Ü.] gerade im Sinn haben. Jetzt ist alles erlaubt. Oder wie Lula es ausdrückt: „Es ist, als würde man verreisen und sein Haus in jemandes Obhut geben – und dieser Jemand würde alles umbauen und verkaufen.“

Die Regierung der Putschisten ist ein schlechter Witz. Ein Gelage der Opportunisten. Alles alte, weiße, heuchlerische Männer. Die Fernsehanstalt ‚Rede Globo‘ hatte in den letzten Monaten eine beispiellose Kampagne betrieben, um die Präsidentin dazu zu bringen, Verantwortung für die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung zu übernehmen und zurückzutreten. So lange, bis die kleinbürgerlichen Leute auf die Straße gingen und die Rückkehr der Militärdiktatur forderten, um mit der Arbeiterpartei abzurechnen.

Nun sind von den aktuellen Ministern der sogenannten Regierung Temer nicht weniger als sieben selbst Angeklagte in jenem ‚Petrobrás-Skandal’ und anderen Korruptionsprozessen. Oder wie Ciro Gomes [bekannter Politiker und Intellektueller, Anm. d. Ü.] es auf den Punkt brachte: „Die Regierung wurde dem organisierten Verbrechen ausgeliefert.“ Niemand hatte den Mut, ihn dafür wegen Verleumdung zu verklagen.

Die angekündigten wie bereits eingeleiteten Maßnahmen sind eine Tragödie für die Zukunft des brasilianischen Volkes. Dafür jedoch stehen sie in Einklang mit dem Projekt des Neoliberalismus: Senkung der Arbeitskosten, hemmungslose Privatisierung öffentlicher Güter und Umverteilung der öffentlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und staatliche Vorsorge in die Hände der Unternehmer. So warnt der Wissenschaftler Márcio Pochmann: „Auf dem Spiel steht die private Aneignung von 10 % des BIP in Form von öffentlichen Mitteln!“

Gesetzesentwürfe sehen Übergangsregelungen vor, welche die Privatisierung aller staatlichen Unternehmen ermöglichen würden, z. B. der Petrobrás, von Energieunternehmen, Häfen und Flughäfen. Anfangen wird man wahrscheinlich mit der Elektrizität und den Öl- und Gasvorkommen. Dieser Angriff auf die Staatssouveränität soll durch die bundesweite Mobilisierung in den kommenden Monaten angeprangert werden.

Weitere Pläne sehen ein Renteneintrittsalter von 65 Jahren für Frauen wie Männer vor, auf dem Land wie in den Städten – und losgelöst vom Mindestlohn. Für die Arbeiterklasse ist das eine Katastrophe. Zudem sind Kürzungen im Gesundheitswesen und das Ende des Programms ‚Mehr Ärzte‘ angekündigt, was gerade in Elendsvierteln und im ländlichen Raum 50 Millionen Menschen betrifft. Gerüchte gibt es auch, die gar von einem Ende des Gesundheitsnotfalldienstes sprechen.

Was die Zinssätze hingegen angeht, wird kein Wort verloren über die alljährlich anfallenden 500 Milliarden Reais, die an die Banken zur Tilgung interner Staatsschulden gehen. Und damit es auch so bleibt, wurden gleich zwei Banker ernannt, um über die goldenen Eier zu wachen: Henrique Meirelles (Finanzminister) und Illan Goldfajn (Zentralbank).

In der Landwirtschaft und Agrarreform scheuten sie sich nicht, zusätzlich zu den bereits erwähnten Kürzungen der Sozialmaßnahmen auch das Ministerium für ländliche Entwicklung abzuschaffen [Gegenpart des exportorientierten Landwirtschaftsministeriums; Anm. d. Ü.] und damit zugleich das ‚Programm zum Erwerb von Nahrungsmitteln‘ (PAA) sowie das ‚Programm für die technische ländliche Entwicklung‘ (ATER) [durch welche in den letzten Jahren die kleinbäuerliche Landwirtschaft gefördert wurde; Anm. d. Ü.].

Zugegeben: Die Regierung der Putschisten war sehr deutlich in dem, was sie vorhat und wie sie es umsetzen will.

Deswegen haben sich alle sozialen Bewegungen und andere soziale Akteure in Netzwerken wie der Frente Popular Brasil unter dem gemeinsamen Ruf „Nein zum Putsch, weg mit Temer!“ vereint. Niemand wird sich auf Verhandlungen mit dieser illegitimen Putschregierung einlassen.  Glücklicherweise haben die brasilianische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft schnell die Natur dieser Regierung erkannt und ihre Stimme bei unzähligen Veranstaltungen erhoben. Im Ausland fanden hunderte von Demonstrationen vor unseren Botschaften statt. Die internationale Presse hat unsere lokale Presse für die Art und Weise angeprangert, wie sie den Staatsstreich einseitig verteidigt hat. Persönlichkeiten aus aller Welt haben sich gegen den Putsch geäußert. Auch Papst Franziskus hat auf unterschwellige Staatsstreiche in einigen Ländern hingewiesen. Der renommierte Intellektuelle Noam Chomski, Friedensnobelpreisträger wie Adolfo Pérez Esquivel oder Rigoberta Menchú und sogar Künstler auf den 69. Filmfestspielen von Cannes haben ihre Solidarität kundgetan und mit Empörung auf den Putsch reagiert. In Brasilien haben sich die Proteste vervielfacht und werden zweifellos zunehmen. Studierende, Künstler und Intellektuelle haben zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes mehr als 20 Gebäude der nationalen Kunststiftung besetzt und so die Putschisten dazu gebracht, das Kultusministerium wieder in Kraft zu setzen. Unsere Jugend kehrt demonstrierend auf die Straßen zurück. Die „Frente Brasil Popular“ hat eine Protestagenda für die kommenden Monate geplant, und in den Gewerkschaften rumort es: Von Generalstreik ist die Rede, um die gesamte Produktion lahmzulegen im Widerstand gegen die Putschisten.

Zugleich wächst die Solidarität mit Präsidentin Dilma, und das trotz unserer Kritik an den letzten Jahren ihrer Amtszeit. Trotz allem werden wir sie zu zahllosen Großveranstaltungen einladen und dort laut und deutlich sagen, dass sie es ist, die von 54 Millionen Wählern – der Mehrheit des brasilianischen Volkes – als Präsidentin bis Dezember 2018 gewählt wurde.

João Pedro Stédile, war einer der Gründer der Movimento dos Sem Terra (MST; Bewegung der Landlosen in Brasilien) und ist deren einflussreicher Wortführer.

(https://www.brasildefato.com.br/2016/05/23/os-golpistas-mostraram-a-que-vieram/)

 

Kommentar:

Benjamin Bunk

Der ‚kalte Putsch‘ im Mai 2016 und die vorausgegangene politische Gemengelage in Brasilien lassen sich nicht einfach durch eine anhaltende wirtschaftliche Rezession und die Verlustangst der neuen Mittelschicht nach ‚10 fetten Jahren‘ erklären.[i] Spannend ist aber auch, wie die sozialen Bewegungen auf den Putsch reagieren (siehe Beitrag oben).

Nach den langen Jahren unter der regierenden Arbeiterpartei (PT) war die brasilianische Linke zerstritten. Die PT war als ‚Stimme der Bewegungen‘ gegründet worden (1980) und hatte noch im ersten erfolgreichen Wahlkampf Lulas ein ‚demokratisches und sozialistisches Projekt des Volkes‘ versprochen (2006), um dann eine liberale Wirtschaftspolitik mit sozialem Anstrich zu betreiben. Zudem haben sich die sozialen Kämpfe der letzten Jahre in viele neue Bewegungen ausdifferenziert. Auch die MST war Anfang der 80er Jahre im Übergang von der Militärdiktatur entstanden und wurde als Symbol einer Demokratisierung Brasiliens geachtet. Lange stärkste zivilgesellschaftliche Kraft, musste Sie nun mit ansehen, wie die Agrarreform auf der politischen Agenda der PT immer randständiger wurde. Die MST war zutiefst zerstritten über die Frage, ob man diese Regierung unterstützen und sich mit der zugewiesenen Rolle als Akteur sozialer Arbeit zufriedengeben sollte. Eine alternative ländliche Entwicklung geriet als Lösungsmodell für soziale Probleme der Urbanisierung ebenso aus dem Blick, wie die Idee eines demokratischen Projekts für Brasilien angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs.

Und dann gab es noch die Proteste seit Juni 2013. Völlig überraschend gingen Millionen auf die Straße, nicht nur in großen Städten, sondern auch in den kleinsten Dörfern. Neben der gut organisierten Linken, zog plötzlich die ‚perspektivlose Jugend aus den Slums‘ marodierend durch die Straßen (was der Mittelschicht Angst gemacht hat) und zugleich proklamierten die Rechtskonservativen seither die Straße für sich (was in Variation ja auch anderswo bekannt wurde). Und bereits am Vorabend der Wiederwahl 2014 erschien die populär-konservative Wochenzeitschrift ‚Veja‘ mit einem Coverfoto, welches in dunklen Tönen Dilma Korruption unterstellte (was sich als Gerücht entpuppte und bis zuletzt blieb).

Vor diesem Hintergrund stellt Stédile klar, dass die Entwicklung Brasiliens immer noch grundlegend als Kampf der Arbeiterklasse gegen das neoliberale Projekt zu verstehen ist. Und er erklärt der wahlentscheidenden Mittelschicht, warum Protest wieder links und damit „gut“ und erlaubt ist. Ebenso vereinen sich die Stimmen der Bewegungen wieder hinter Dilma, weil die Demokratisierung Brasiliens auf dem Spiel steht. Die neue Regierung hat nicht ganz Brasiliens im Blick, sondern möchte Entwicklung für einen Teil trotz der immer noch krassen Ungleichheit sicherstellen.

[i] Eine umfassende Analyse von Perry Anderson ist hier zu finden (übers. von Gerhard Dilger für die Rosa-Luxemburg-Stiftung): https://www.rosalux.de/publication/42383/krise-in-brasilien-die-anatomie-einer-demontage.html

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