Die aktuelle politische Lage in Brasilien 09/2020

Vom Kollektiv der Internationalen Beziehungen der MST
Den Originaltext finden Sie hier.
Übersetzung: Ulrike Clemen

Aufschrei der Ausgeschlossenen zur Verteidigung des Lebens, am 7. September in Sao Paulo; Foto: Elineudo Meira

Als COVID-19 zu einer Pandemie wurde haben wir noch daran geglaubt, dass dies eine Chance für die Menschheit darstellen könnte. Wir haben daran geglaubt, dass es wichtiger sein würde der gesamten Bevölkerung Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem zu gewähren, als die Rentabilität der Banken sicherzustellen; dass es wichtiger sein würde Beatmungsgeräte herzustellen, als Smartphones; dass eine internationale Kooperation für die Entwicklung eines Impfstoffes wichtiger sein würde als der freie Markt; dass Nahrungsmittel, die von Bauern produziert werden wichtiger sein würden als Industrieprodukte. Vielleicht war es naiv nicht zu bedenken, dass sich der Kapitalismus bereits in einer strukturellen Krise befand als die Pandemie kam.

In diesem Jahrhundert konnten wir beobachten, wie sich die Krisen […] immer mehr häufen und immer destruktiver werden. Gleichzeitig hat auch der Hunger des Kapitals die Umwelt zu zerstören, sämtliche Aspekte des Lebens zu kommerzialisieren und Produkte mit kurzer Haltbarkeit herzustellen immer mehr zugenommen. Und dies alles im Kontext der Entstehung einer neuen Opposition gegen die USA, angeführt von China.

In der Zeit des Kalten Krieges propagierte die USA den „american dream“ und den amerikanischen Lebensstil, der Westen wurde als eine „Welt der Mittelschicht“ dargestellt (was nicht heißt, dass dieser Traum Wirklichkeit geworden wäre). Das Neue an der Ära Donald Trump ist, dass die USA der Menschheit nichts mehr zu bieten hat. Nicht ein einziges Projekt, keine ideologische Debatte und keine gesellschaftliche Vorstellung. Die Trump-Doktrin besteht ausschließlich aus der Ausübung von Macht – weil sie können, weil sie wollen.

Es ist beeindruckend, dass sich Menschen diesem Projekt anschließen und unterwerfen ohne etwas angeboten zu bekommen. Wir beziehen uns hier auf die brasilianische Elite. Bolsonaro hegt eine tiefe Bewunderung für die USA und besonders für Donald Trump. […] Aber Leute wie sein Finanzminister, Paulo Guedes (ein Chicago Boy) oder der Präsident des Nationalkongresses, Rodrigo Maia, lassen sich nicht von der Bewunderung leiten: sie verfolgen ein ultraliberales Projekt um dieses Land zu führen und das erfordert eine autoritäre Regierung die unpopuläre Maßnahmen durchsetzt.

Weder der Finanzsektor oder die Industrie noch das Agrobusiness haben jemals Jair Bolsonaro wegen seiner machohaften, frauenfeindlichen, homophoben und aggressiven Meinungen gerügt. Es gibt eine liberale Opposition, die in den Medien ihre Missbilligung äußert. Aber kein Unternehmer hat je Kritik geäußert.

Bolsonaro führt das Projekt fort, das 2016 mit dem Putsch gegen Dilma Roussef eingeleitet wurde. Es gibt kaum ein anderes Land auf der Welt das so viele ultraliberale Reformen in so kurzer Zeit durchgeführt hat wie Brasilien in den letzten vier Jahren. […]

Die Essenz des Projektes, das Jair Bolsonaro an die Macht gebracht hat, ist der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und der Gesellschaft zugunsten privater Investitionen. Das zeigt sich beispielsweise in der Umweltpolitik. Das zweite Jahr in Folge nehmen die Waldbrände im Amazonasgebiet und dieses Jahr auch im Pantanal zu. Durch diese Brände kann die Agroindustrie Waldgebiete in Sojaanbaugebiete und Weideland umwandeln. Obwohl die Besitzer dieser Flächen bekannt sind, ist es bisher zu keinen Strafen oder Festnahmen gekommen. Wie Bolsonaro bereits gegenüber Al Gore geäußert hat, ist es sein Wunsch, dass die USA das Amazonasgebiet ausbeuten. […] Zurzeit diskutieren die drei größten Privatbanken des Landes, wie der Urwald des Amazonasgebietes in Privatkonzession am besten ausgebeutet werden kann.

In fast keinem anderen Land ist der Rückgang des Bruttosozialproduktes so hoch wie in Brasilien. Die brasilianische Wirtschaft ist in den letzten fünf Jahren nicht gewachsen und die Rezension wäre auch ohne die Pandemie eingetreten. Im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2019 ist die Wirtschaft um 11,4% eingebrochen. […]

In dieser Lage hätte man vom Staat erwartet, dass er handelt um die Ökonomie zu retten, besonders angesichts der Tatsache, dass es bereits 12 Mio. Arbeitslose gibt. Doch der Haushalt für das kommende Jahr sieht u.a. Kürzungen in der Bildung, im Gesundheitswesen, der Wissenschaft und Technik vor. Zudem sollen die aktuellen Corona-Hilfen für notleidende Familien abgeschafft werden.

Gemeinsam mit dem neuen Haushalt, hat die Regierung einen Reformvorschlag gemacht, der den Kündigungsschutz für Staatsbeamte aufhebt. Für die bewaffneten Streitkräfte ist dagegen eine Erhöhung des Etats und eine Aufstockung des Personals vorgesehen. Mit der Allianz zwischen Finanzen und Militär in vorderster Front des Landes kann sich Jair Bolsonaro ganz seinem persönlich-politischen Projekt widmen: den Staat zu benutzen um Ermittlungen und Verurteilungen gegen seine Familie und Freunde wegen ihrer Geschäfte in Zusammenhang mit den „Carioca-Milizen“ (paramilitärische Gruppen in Rio de Janeiro) zu verhindern.

Unter diesen komplexen Verhältnissen müssen die sozialen Bewegungen bestehen. In der ökonomischen und sozialen Krise scheinen die Individuallösungen attraktiver und die Organisierung der Bevölkerung ist durch die Abstandsregeln und Repressionen erschwert. Militär und Bundespolizei sind die soziale Basis des Bolsonarismus. Das reicht bis hin zur Organisierung von Streiks gegen progressive Regierungsmitglieder als Methode der Destabilisierung von Oppositionsregierungen. Seit der Amtseinführung hat sich die Polizei legitimiert gefühlt Amtsmissbrauch zu begehen, wie die erhöhte Sterblichkeitsrate bei Polizeieinsätzen in Rio de Janeiro belegt oder die Überwachung von antifaschistischen Demonstranten.

Gleichzeitig aber sind die Verhältnisse, die dieses Projekt aufrecht erhalten fragil. Der Ultraliberalismus ist nicht in der Lage den ökonomischen und sozialen Kollaps aufzuhalten. Es ist die Aufgabe der sozialen Bewegungen konkrete Lösungen für diese Krise zu erarbeiten: durch Solidaritätsaktionen stärken wir unsere Verbindungen mit den Arbeiter*innen in den Städten, wir produzieren Nahrungsmittel, bauen Siedlungen (assentamientos) und treiben unsere Kampagne zur Pflanzung von Bäumen voran.

Wir sind nicht naiv. Wir sind uns der Macht und der Offensive des Kapitals in diesen Zeiten bewusst. Aber wir glauben an die Fähigkeiten der Menschen und an die humanistischen Werte. Darum glauben wir auch weiterhin, dass die Zeit nach der Pandemie die Zeit des Nachdenkens und des Wiederaufbaus der Leitprinzipien der Menschen sein wird: die Kooperation zwischen den Völkern, die Weiterentwicklung der Menschheit auf Basis der gerechten Ökonomie und eine Gesellschaft der Gleichheit und des Respekts vor der Natur und der Umwelt.

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Dieser Text ist Teil eines regelmäßigen Newsletters der FreundInnen der brasilianischen Landlosenbewegung MST, e.V., Kontakt: amigas@mstbrasilen.de

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