Aus einem Interview mit João Pedro Stedile – MST, vom 26.3.2022
Übersetzung: Wolfgang Hees
Joao Pedro Stedile, ist einer der Mitbegründer der brasilianischen Landlosenbewegung MST. Seit 1984 gehört er zum Leitungskollektiv der Bewegung, die über 500.000 Familien durch Landbesetzungen zu freien Bauern gemacht hat und heute eine der wichtigsten sozialen Bewegungen Brasiliens ist.
„Die Realität Brasiliens heute ist sehr vielschichtig sowie tiefgründig und schwer zu überblicken, daher werde ich thematisch auf die verschiedenen Aspekte der aktuellen Krisen eingehen: ökonomisch, ökologisch, sozial und politisch.
Brasilien erlebt seit 2014 die schlimmste Krise seiner Wirtschaft: 28.000 Industriebetriebe haben seither geschlossen und über eine Million kleiner und mittlerer Betriebe sind pleite gegangen. Neben dem Verlust der Arbeitsplätze und der Kaufkraft können auch die Bedürfnisse der brasilianischen Bevölkerung nicht mehr erfüllt werden. Große Betriebe machen weiter Millionengewinne, die aber nur dem einen Prozent der Reichsten in Brasilien zugutekommen.
Die ökologische Krise ist mehr als eine Umweltkrise in Brasilien – sie ist ein Verbrechen gegen die Umwelt, das täglich durch das Großkapital begangen wird. Mit Unterstützung der Regierung Bolsonaro eignet sich das spekulative Kapital die Natur privat an: öffentliche Ländereien, Indigenengebiete, Wälder, Wasser, Vielfalt. Das Kapital investiert in die Ausbeutung dieser Gemeingüter und verwandelt sie in Ware.. Nestlé verdient heute mit Wasser mehr als mit Milch, weist damit Jahresgewinne von 400% aus! Das „Goldkapital“ – vornehmlich aus Großbritannien und Kanada – ermuntert mit seiner Finanzierung über 30.000 Goldsucher, die in den Amazonas-Regenwald eindringen und Wälder wie Flüsse zerstören. Zur Extraktion des Goldes setzen sie große Mengen Quecksilber ein und vergiften Wasser, Fische und Wälder sowie sich selber. Der Klimawandel durch die Zerstörung Amazoniens ist in Brasilien längst angekommen: der Rückgang der wichtigsten Erntegüter im Bundesstaat Sao Paulo – Zuckerrohr und Orangen – um über 30% steht in direktem Zusammenhang mit den Abholzungen und dem dadurch gestörten Wasser-haushalt.
Die soziale Krise ist aktuell die Schlimmste: 70 Millionen Erwachsene haben ihre Arbeit verloren, das sind 70 Millionen Schicksale ohne Arbeit, ohne Einkommen, ohne Arbeitnehmerrechte und ohne Altersversorgung. Diese Ausgeschlossenen sind überwiegend Afrobrasilianer, Frauen und Jugendliche. Bei den Jugendlichen zwischen 16 und 30 Jahren ist die Situation besonders schlimm: 46% von ihnen arbeiten nicht und haben keine Ausbildungsplätze.
Die Gesundheitskrise hat Brasilien schwer erwischt, da die Regierung lange Covid geleugnet hat. Erst mit einem Jahr Verspätung wurde zaghaft mit den Impfungen begonnen. Mit 650.000 Corona-Toten – weltweit Nr.2 nach den USA – bekam Brasilien seine Rechnung.
Bolsonaro sollte für die Bourgeoisie die Lösung sein, aber mit seiner neo-faschistischen und ultra-liberalen Politik machte er alles noch schlimmer. Und wir haben es nicht geschafft, ihn weg zu bringen; durch Corona gab es keine Massenkundgebungen, wir bekamen gerade mal 50.000 bis 100.000 Menschen mobilisiert. Mittlerweile hat sich das Großkapital von ihm abgewandt, nur noch 10% unterstützen ihn. 60% suchen den dritten Weg: weder Bolsonaro noch Lula. Schon ca. 20% der Bourgeoisie möchte, dass Ex-Präsident Lula wiederkommt. Die progressiven Kirchen unterstützen ihn, die Gewerkschaften – sogar Teile des modernen Agrobusiness und mit Alckmin als Vize-Kanzler wächst die Zustimmung der Industriellen. Lula einigt die Arbeiter, das ist keine Frage der Partei.
Unsere Aufgabe ist es nun, Lula zu sagen, was wir wollen: Hör auf das Volk!
Mit Massenkundgebungen, einer Kampagne auf Basis von lokalen Vertretern mit Hilfe von Volkskomitees, zusammen mit den Gewerkschaften in allen möglichen Räumen errichtet, und unserem „Novo projeto popular“, dem neuen Projekt des Volkes werden wir ein post-kapitalistisches Brasilien aufbauen. Denn der Kapitalismus hat versagt.“