Ein Kommentar aus Brasilien von Manuel Graf, über Agrobusiness und die Forderungen der ländlichen Sozialen Bewegungen
Keine 500 Meter von meinem Zuhause entfernt schleppt sich etwa alle viertel Stunde ein schwer beladener Güterzug vorbei in Richtung des 50 Kilometer entfernten Porto de Santos, dem größten Hafen Lateinamerikas. Ein Spaziergang an der Bahnlinie entlang gibt Aufschluss über deren Fracht: hauptsächlich Maiskörner und Sojabohnen sind auf dem Boden verstreut. Von Santos aus gehen diese Erzeugnisse dann in alle Welt, wo sie in Futtertrögen oder als Ethanol verarbeitet in Autotanks landen. Heute bestehen 80% der brasilianischen Exporte aus landwirtschaftlichen und industriellen Rohstoffen, was gegenüber 1980 ein Rückschritt darstellt, als der Anteil der Industrieprodukte am Export bei 60% lag.
Dies ist eine der Folgen des Agrobusinesses, eines Landwirtschaftsmodells, das die vollständige Kontrolle der gesamten Produktionskette der Nahrungsmittel durch multinationale Konzerne, das Finanzkapital und Großgrundbesitzer zum Ziel hat. Deren Waffen sind genmanipulierte Pflanzen, Schädlingsbekämpfungsmittel, Kredite und Patente.
Genpflanzen und Monokulturen machen den exzessiven Gebrauch von Schädlingsbekämpfungsmitteln notwendig, was Umwelt und Menschen verseucht und die Bauern vollständig von Konzernen abhängig macht. Aufgrund von fortschreitender Landkonzentration werden Kleinbauern von ihrem Land vertrieben, Verstädterung, Landkonflikte und Ermordungen von Aktivisten nehmen zu.
In Deutschland wollen die Menschen keine Genprodukte und auch keine Nahrungsmittel mit hoher Pestizidbelastung essen. Das ist gut. Doch deutsche Firmen verdienen Unsummen mit dem Verkauf von Genpflanzen und Schädlingsbekämpungsmitteln in ärmeren Ländern. Unvorstellbare Mengen an Giften werden verwendet, teilweise Gifte, die in Europa oder den USA längst verboten sind (DDT beispielsweise wurde in Brasilien erst 2009 verboten).
„Heute ist es praktisch unmöglich, Lebensmittel ohne Schädlingsbekämpfungsmittel zu kaufen, denn selbst die, die ohne produziert wurden, weisen Kontaminierung auf, die sich in der kompletten Ernährungskette, im Wasser und sogar in der Luft befindet.“ (Quelle: http://www.mst.org.br/node/10606)
Und zudem vermischt sich die Pflanzenwelt mit gentechnisch manipulierten Organismen. Im Jahr 2009 betrug der Anteil gentechnisch veränderter Sorten an der Sojaproduktion bereits 70 Prozent – Tendenz steigend. Was für Einflüsse haben GMOs und Pestizide auf die Umwelt? Welchen Schaden können sie anrichten? Die Antworten auf diese Fragen bleiben uns deren Hersteller schuldig.
Die große Masse der Bevölkerung hat nicht die Wahl, ob sie gesunde, gentechnikfreie Lebensmittel kauft oder nicht. Denn erstens wird sie konsequent unter- und fehlinformiert und zweitens können sie sich biologische Lebensmittel nicht leisten. In den „sich entwickelnden“ Ländern verbraucht die arme Bevölkerung zwischen 60% und 80% ihres Einkommens allein für den Kauf von Lebensmitteln. Im Supermarkt sind diese Menschen also gezwungen, stets zum Billigsten zu greifen.
Die sozialen Bewegungen, wie die MST (Landlosenbewegung) oder dia Via Campesina, kämpfen für ein anderes Agrarwirtschaftsmodell, das eine gerechte Landverteilung zum Ziel hat. In den letzten Wochen organisierten sie Demonstrationen, Besetzungen und Veranstaltungen, um den wahren Charakter des Agrobusinesses in die Öffentlichkeit zu rücken, der von Politik und Medien stets veleugnet wird.
Unter anderem fordern die sozialen Bewegungen: ? die Enteignung der großen unbewirtschafteten Anbauflächen um auf ihnen landlose Familien anzusiedeln ? das Verbot von Schädlingsbekämpfungsmitteln ? ein neues Kreditsystem, das, anstatt großer Monokulturen, Kleinbauern unterstützt ? die Rücknahme des Código Florestal (Waldgesetz), das weitere Abholzung des Regenwaldes zur Folge haben wird ? die Enteignung der Fazendas auf denen Arbeiter unter sklaveähnlichen Bedingungen arbeiten ? die Anerkennung und Respektierung der Indigenengebiete ? eine umfassende Agrarreform (Quelle: „Jornada de Lutas da Via Campesina“, http://www.mst.org.br/node/12298)
Wie alles im Kapitalismus orientiert sich die kapitalistische Landwirtschaft in keinster Weise am Wohle des Volkes, sondern allein am Profit weniger. Am Profit multinationaler Konzerne und einer kleinen brasilianischen Oberschicht, die die grosse Masse der Bevölkerung, die Umwelt und nachkommende Generationen den Preis dafür bezahlen lassen. Voll beladene Güterzüge fahren an schlecht ernährten oder gar hungernden Menschen vorbei – denn ihre Fracht wird auf der Suche nach den grössten Gewinnen aus dem Land gebracht. Jean Ziegler, ehemaliger Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung sagt: „ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Ermordet vom Kapitalismus, einer Wirtschaftsordnung, die unglaubliche Reichtümer in den Händen einer kleinen Bourgeoisie konzentriert, das Volk aber vor den Mauern der Stadtzentren und auf dem Lande vor sich hin vegetieren lässt.