(von Manuel Graf, 19.02.2014, Brasilien/Venezuela)
Der Großteil der Landbevölkerung Brasiliens befindet sich nach wie vor in einer schwierigen Lage. Auch unter Dilma Rouseff, die seit 2011 die Regierung stellt, konnten keine strukturelle Veränderungen am landwirtschaftlichen Modell des Agrobusiness erreicht werden. Im Jahr 2013 wurde so wenigen Familien Land zugesprochen, wie seit Jahren nicht mehr. Grund dafür ist nicht nur fehlender politischer Wille der PT-Regierung und die schwierigen Mehrheitsverhältnisse im brasilianischen Kongress, sondern auch der konservative Justizapparat. Dazu kommt der hohe Druck von Seiten multinationaler Konzerne, des Finanzkapitals und der Großgrundbesitzer, sowie die Monopolstellung konservativer und neoliberaler privater Medien.
Vom 10. bis 14. Februar 2014 fand in Brasilia der 6. Nationalkongress der brasilianischen Landlosenbewegung MST statt. 15.000 AktivistInnen aus dem ganzen Land kamen zusammen, um über die aktuelle Lage des Engagements für eine Agrarreform zu debattieren und gleichzeitig das 30-jährige Bestehen der MST zu feiern.
In einer seit zwei Jahren auf allen Ebenen stattfindenden Debatte erarbeiteten die Aktivisten der MST ihr neues Agrarprogramm, das für die nächsten Jahre als Leitlinie dienen wird. Darin wird eine populare Agrarreform entworfen, die – im Unterschied zur klassischen Agrarreform der bloßen Landverteilung – die Transformation der gesamten Gesellschaft im Blick hat. Es beinhaltet Forderungen nach der Demokratisierung des Zugangs zu Naturressourcen, der Respektierung indigener Gebiete, Fokussierung auf Nahrungssouveränität statt Produktion für den Weltmarkt und die Demokratisierung der Medien.
Um dem Modell des Agrobusiness etwas entgegensetzten zu können, braucht die MST dem neuen Programm zufolge jedoch die Unterstützung ihrer Forderungen durch die städtische Bevölkerung: “Unser Programm richtet sich nicht nur an die landlosen Bauern oder Bewohner des ländlichen Raums. Die von uns geforderte Agrarreform ist popular, denn sie bezieht alle Kräfte und Subjekte mit ein, die an Veränderungen der Gesellschaft glauben und diese benötigen. Und sie kann nur Wirklichkeit werden, wenn wir eine große Allianz zwischen der ganzen Arbeiterklasse erreichen. Es ist eine Agrarreform für die gesamte Bevölkerung.”
Der Leitspruch der MST für die nächsten Jahre ist “Lutar, Construir Reforma Agraria Popular!”, was in etwa “Kämpfen und die populare Agrarreform aufbauen!” bedeutet. Diesen Prozess einer Agrarreform und die damit einhergehende Transformation der Gesellschaft treibt die MST in verschiedenen Weisen voran. Beispielsweise durch die Organisation der angesiedelten Familien in Landkooperativen, Produktion und Verkauf von ökologisch angebauten Produkten, Schaffung kollektiv verwalteter agroindustrieller Betriebe, politische Bildung der AktivistInnen, Alphabetisierungsprogramme oder durch den Bau von Schulen für die Kinder der angesiedelten Familien.
Des Weiteren versucht die MST, den brasilianischen Staat durch direkte Aktionen wie Besetzungen von Land oder Regierungsgebäuden zu Zugeständnissen zu zwingen. Die massive Mobilisation von Aktivisten ist ein zentrales Instrument zur Erreichung der Ziele der MST. Dies wurde auch während der Kongresstage deutlich, als nach der Demonstration von 16.000 Aktivisten durch Brasilia die Direktion der MST von der Präsidentin zu einem Treffen eingeladen wurde – nachdem diese sich über drei Jahre einem Gespräch verweigert hatte.
Auf internationaler Ebene hat die MST innerhalb der letzten Jahre ein breites Netz zwischen sozialen Bewegungen verschiedenster Länder aufgebaut. Durch Brigaden nach Haiti, Paraguay, Guatemala, Venezuela, Nicaragua, Mosambik u.a. leistet die MST einen wichtigen Beitrag zur Internationalisierung und Vernetzung sozialer Bewegungen. Rund um die Welt existieren schon jetzt sowohl koordinierte Formen von Zusammenarbeit als auch MST-Solidaritätsgruppen. Dies führte unter anderem dazu, dass auch 200 Delegierte aus verschiedensten Ländern für den Kongress angereist waren.