Bolsonaro und die Agrarchemkalien: 239 Neuzulassungen in den ersten 200 Tagen

von Svea Franz

In den ersten 200 Tagen hat die Regierung Bolsonaro bereits mehr Agrargifte neu zugelassen als die EU in den letzten acht Jahren. In Europa waren es 229 neue Substanzen seit 2011 und in Brasilien 239 seit Beginn 2019. Schon seit Juni 2018 liegt der Abgeordnetenkammer ein Gesetzesentwurf vor, der die Autorisierung und Kommerzialisierung neuer und abgewandelter Substanzen vereinfachen soll. Die aktuell beispiellose Geschwindigkeit von Neuzulassungen bringt die konservative Agrar-Fraktion des brasilianischen Parlaments jedoch dazu, ihre Bemühungen um das neue Gesetz einzuschränken. Die Mitglieder dieser Agrar-Fraktion, die die Interessen der Großgrundbesitzer im Parlament vertreten, „haben gesehen, dass sie als Regierungsmacht nicht länger auf die Gesetzgebung angewiesen sind“ erklärt auch Gerson Teixeira, Ex-Präsident des Verbandes der brasilianischen Landreform (ABRA).

Ziel der jetzigen Regierung ist es, den Markt für Agrarchemikalien für Landwirte zugänglicher zu machen und die Preise dadurch zu drücken. Verschmutzungen der Umwelt, Verunreinigung der Lebensmittel oder gar ein gravierende Einfluss auf die Gesundheit und Leben von Menschen werden hingenommen und alle Register gezogen, um Brasilien als größte Agrarmacht zu etablieren.

Ende Juli diesen Jahres veröffentlichte Gerson Teixeira eine Erhebung, der zufolge fast die Hälfte (44%) aller Wirksubstanzen der neu zugelassenen Stoffe in den Ländern der EU verboten sind. „Während alle anderen Länder derzeit versuchen restriktiver mit Agrarchemikalien umzugehen, ist in Brasilien das Gegenteil der Fall“ so Teixeira in seiner Veröffentlichung über die Großgrundbesitzer und die Pestizide.

Unter den derzeitigen politischen Rahmenbedingungen sei es kaum machbar, die Freigabe der Agrargifte zu verhindern, so Teixeira weiter: „Für den Kongress ist es sehr schwer. Die Arbeiterpartei hat zwar die Initiative ergriffen, um die Freigabe per Legislativdekret zu kippen, aber die Machtverhältnisse sind auch hier unvorteilhaft. Im Kongress ist das Agrarbusiness von der „bancada ruralista“ vertreten, die sich in der Parlamentsfraktion der Land- und Viehwirtschaft (Frente Parlamentar da Agropecuária – FPA) organisiert. Sie stellen 257 von insgesamt 594 Abgeordneten. Im gleichen Zug setzte die Nationale Agentur für gesundheitliche Kontrolle (Anvisa) im Juli 2019 die Grenze hoch, ab der ein Agrargift als „sehr giftig“ eingestuft wird. Jetzt sind nur noch solche Substanzen „sehr giftig“, die ein tödliches Risiko für den Menschen bergen. Zuvor fielen 34% aller klassifizierten Stoffe unter diese Kategorie, heute sind es nur noch 2%. Anvisa weißt Vorwürfe zurück und argumentiert, dass sich die neue Kategorisierung an internationalen Maßstäben orientiere (Globally Harmonized System of Classification and Labelling of Chemicals).

Die kürzlich legalisierten Wirkstoffe sind aber nicht nur für den Menschen von Gefahr, sondern bedrohen auch Insekten wie z.B. Bienen. Wie in Europa ist auch in Brasilien ein großes Bienensterben zu beobachten.

In den ersten Monaten dieses Jahres sind schätzungsweise allein 500 Millionen Bienen durch die Nutzung gefährlicher Stoffe getötet worden. Theoretisch müssten die Landwirte bestimmte Regeln beim Einsatz solcher Substanzen befolgen. Allerdings ist man unter der aktuellen Regierung weit davon entfernt, die Umsetzung effektiv zu kontrollieren. In 80% der toten Bienen wurden Agrargifte wie Neonicotinoide gefunden.

Die Rolle von BAYER

Auch auf der diesjährigen Hauptversammlung der Bayer-Aktionäre wurde die Nutzung von Agrargiften in der brasilianischen Landwirtschaft thematisiert. Zur Freude des Leverkusener Unternehmens hat sich durch die Erleichterung der politischen Rahmenbedingungen der Absatzmarkt für Insektizide, Fungizide und Herbizide sowie Mittel für die Behandlung von Saatgut vergrößert. Auch im Saatgutbereich weitet Bayer seine Vormachtstellung aus.

So wird Brasilien immer mehr zum Experimentierfeld für Agrarchemikalien, die in Europa verboten oder nur zur eingeschränkten Nutzung unter klaren Sicherheitsvorkehrungen zugelassen sind. Die Ausmaße sind enorm. Wenn die insgesamt in Brasilien pro Jahr ausgebrachte Menge an Agrargiften auf die Bevölkerung heruntergerechnet wird, so kommt man auf die Menge von 7,3 Litern je Bürger*in, so eine Erhebung der brasilianischen Kampagne gegen Agrargifte und für das Leben.

Alan Tygel, Vertreter der MST-nahen Kampagne sprach Ende April auf Einladung der Kritischen Aktionäre auf der Hauptversammlung von Bayer. Er berichtet, dass das brasilianische Gesundheitsministerium beträchtliche Mengen an Agrargiften wie Carbendazim, Chlorpyrifos, Diruon, Tebuconazole bereits im Trinkwasser nachweisen konnte. In Europa ist Carbendazim verboten und die anderen drei Wirkstoffe haben Grenzwerte, die um den Faktor 1.200 niedriger sind als in Brasilien. Daraufhin stellte Tygel die Frage in den Raum, ob brasilianische Körper denn etwa widerstandsfähiger seien als die europäischen. Auch Christian Russau vom Dachverband Kritische Aktionäre beklagt Bayers Doppelmoral.

Nach Außen und medial agiert das Unternehmen als angeblicher Vorreiter im weltweiten Kampf gegen den Hunger, in Brasilien vorrangig jedoch mit Herbiziden, die in Europa verboten sind. Somit erwirtschaftet das Unternehmen Gewinn auf Kosten von Leben, der Gesundheit der Menschen und der Natur. Bayer besitzt in Brasilien die Lizenz für 109 Agrargifte, davon 12, die in Europa nicht zugelassen sind.

Quellen:

Weitere Informationen:

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Dieser Text ist Teil eines regelmäßigen Newsletters der FreundInnen der brasilianischen Landlosenbewegung MST e.V. und treemedia e.V.
Kontakt: amigas@mstbrasilen.de

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