Von Wolfgang Hees, (Freunde des MST, Deutschland)
Die Landlosen vom MST zeigen auf ihrem 6. Nationalkongress zum dreißigjährigen Bestehen ihrer Bewegung Kampfgeist, Realitätssinn und Stärke, sie schließen neue Allianzen und setzen auf den ökologischen Anbau.
„Kämpfen. Eine von der Bevölkerung getragene Agrarreform umsetzen“
Es war immer wieder aufs Neue überwältigend, in die Sportarena Nilson Nelson der brasilianischen Hauptstadt Brasilia zu schauen, während hier der 6. Nationalkongress der brasilianischen Landlosenbewegung MST tagte und tobte. Über 15.000 Mitglieder aus allen Landesteilen Brasiliens formten ein bewegtes Meer roter MST-Fahnen, – Kappen und – Hemden, aus denen als Farbtupfer die grünen Fahnen der weltweiten Kleinbauernbewegung Via Campesina herausstachen. Sprechchöre wiederholten immer wieder das Motto des neuen 5 Jahresplans: „Kämpfen. Eine von der Bevölkerung getragene Agrarreform umsetzen!“
Die Landlosenbewegung MST hat seit ihrer Gründung vor 30 Jahren viel bewirkt. Rund 400.000 landlose Familien kamen über die Bewegung schon zu Landbesitz. Weitere 90.000 Familien leben und arbeiten derzeit auf besetztem Land in der Hoffnung, dass sie in zwei, drei oder bis zu acht Jahren auch zu ihrem Landbesitztitel kommen werden. 490.000 Familien, das sind über 2 Millionen Menschen, die nun von ihrer Arbeit auf ihrem Land leben können. Die Agrarmodule der Landreform variieren zwischen 15 und 80 Hektar, abhängig von Region, Klima, Boden, Wasserzugang, Vermarktungsmöglichkeiten etc. Die Aktionsform der Landlosenbewegung ist es, unproduktives Land zu besetzen. Sie basiert auf dem „Landstatut Brasiliens“ aus den sechziger Jahren. Damals hatten die amerikanischen Berater der „Allianz für den Fortschritt“ Angst vor einem „zweiten Kuba“ und deshalb willigte man in den Deal ein, dass nicht wirtschaftlich genutzte Ländereien zu dem sozialen Zweck einer Agrarreform enteignet werden konnten. Doch dann folgte der Militärputsch 1964, Präsident Jango musste ins Exil fliehen und die Bauernligen unter Juliao wurden verfolgt, ihre Mitglieder ermordet. Erst 1984 konnten sich die Kleinbauern wieder neu organisieren und gründeten die Landlosenbewegung. Die fasste die Begrifflichkeiten des Landstatutes griffiger: „Land für den, der darauf arbeitet!“ und begann ab 1984 mit ihren Landbesetzungen. Einer der Höhepunkte während des Kongresses war der gemeinsame Marsch zum Amtssitz der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff: 16.000 Demonstranten in vier Reihen, rote Hemden, rote Mützen, die rote MST- und grüne Via Campesina-Fahnen schwenkten, dazwischen Unterstützerfahnen von der IG Metall und weiteren Gewerkschafts- sowie weltweiten Unterstützerverbänden. In Sprechchören wurde immer wieder die Umsetzung der Agrarreform gefordert. Vorbei am Justizministerium, vorbei an der amerikanischen Botschaft – hier war das Polizeiaufgebot besonders hoch, drei Polizeihubschrauber, fünf Hundertschaften der Polizei. Vor dem Präsidentenpalast eskalierte dann doch die Gewalt: Provokateure der Bundespolizei griffen Sem-Terra an, als diese die symbolischen Holzkreuze für alle umgebrachten Sem-Terra-Opfer aus dem Bus holten. Die Polizeigruppe, so stellte sich später heraus, sollte die friedliche Demonstration stören, um ein schlechtes Bild auf das MST, die PTRegierung und die Polizei des Regierungsdistriktes zu werfen. Der Kommandant und seine Einheit wurden anschließend verhaftet und angeklagt. Die für eine stumme Demonstration gedachten Holzkreuze wurden zu Wurfobjekten und hagelten hundertfach auf diese Polizisten ein. Im allgemeinen Aufruhr wurden die Scharfschützen positioniert, Tränengas, Wasserwerfer und Hartgummigeschosse aktiviert – da zog die Leitung des MST die Reißleine und löste die Kundgebung vor dem Präsidentenpalast auf. Präsidentin Dilma hatte es sowieso vorgezogen, sich im fernen Mato Grosso mit einer Delegation des Soja-Agrobusiness zu treffen, und die Forderungen des MST an die Regierung konnten daher nur treuhänderisch übergeben werden. Doch die Regierung meldete sich am nächsten Tag zurück: man überlege, nun jährlich 33.000 Familien anzusiedeln – das MST fordert mindestens 100.000, im letzten Jahr waren es gerade einmal 7.000!
Dagegen waren die Sem-Terrinhas, die Kinderund Jugendorganisation der Landlosen im Bildungsministerium erfolgreicher. Ihrem Aufruf zur Verbesserung der schulischen Situation im ländlichen Raum konnte sich das Ministerium voll anschließen – und in der Presse kam diese Initiative auch gut an. Zurück marschierte der Demonstrationszug in zivilem Ungehorsam nicht mehr in „Viererreihchen“ auf der rechten Straßenspur die 7 km zum Kongress, sondern machte Brasilias Hauptverkehrsader einfach zu und nahm alle vier Spuren. „O Brasil vai parar“ –„Brasilien wird stillstehen“. Ganz so war es nicht, aber wenigstens die Hauptstadt stoppte im Stau. Auf dem Kongressgelände gingen die Debatten weiter, im Plenum, in Arbeitsgruppen, beim Essen, abends bei Bier oder Cachaça (Zuckerrohrschnaps). Dabei war der Kongress schon der vorläufige Endpunkt einer mehr als zweijährigen Debatte in der Bewegung. So lange hatte man sich Zeit genommen, um den nächsten Fünfjahresplan von der Basis her zu diskutieren und zu definieren. Und es ist etwas Wunderbares dabei herausgekommen: ein Ja zur Menschenwürde, zur Vielfalt, Solidarität, Diversität und Ökologie. Exzellente Redner und Analysten aus der Bewegung und ihrem Umfeld, von Politikern, die hinter der Bewegung stehen und zum Teil aus ihr stammen, von Partnerorganisationen aus Brasilien und aller Welt, von Via Campesina und CLOC, von Gewerkschaften, der Frauenbewegung, den Kirchen, Umweltverbänden, sozialen Bewegungen beleuchteten in Vorträgen, auf Podien, in Aufführungen detailliert das neue Fünfjahresprogramm des MST. In einer klaren Sprache ausgesprochen und immer wieder durch Einlagen, Theaterstücke, Aufführungen der mistica und der Appelle aufgelockert, wurde es während der 5 Tage nie langweilig, die Beteiligung war extrem hoch und in allen Pausen wurde weiter diskutiert. Das neue Programm ist von der Basis ausgegangen und wieder bei ihr angekommen. Und es hat die Teilnehmer animiert und agitiert. Zurück in den Bundesstaaten werden sie berichten und es in die Tat umsetzen. Neue Landbesetzungen sind im großen Stil zu erwarten – Präsidentin Dilma wird sich wundern und mehr als 33.000 Familien ansiedeln dürfen. Die Bewegung hat mit dem neuen Motto der „Reforma agraria popular“ die gesamte Bevölkerung im Blick: es geht nicht nur um die Landlosen, sondern um die Ernährungssouveränität der Brasilianer. Über 70% der Nahrungsmittel, die in Brasilien auf den Tisch kommen, stammen aus kleinbäuerlicher Produktion (produziert auf 24% der Ackerfläche), während das Agrobusiness 76% der Böden besitzt und zur Versorgung der brasilianischen Bevölkerung gerade einmal 30% beiträgt! Der Rest sind Produkte für den Weltmarkt: Äthanol, Soja, Zucker, Fleisch. Und es geht dem MST auch um die gesunde Ernährung des Volkes, daher ein eindeutiger Schwenk in den ökologischen Landbau. Zum einen wegen der gesunden Ernährung, zum anderen aber auch aus der Erkenntnis, dass man das Agrobusiness nicht bekämpfen kann, wenn man mit den gleichen Mitteln arbeitet und in den gleichen Strukturen steckt. Monsanto bekämpfen und gleichzeitig ihr Gensoja anbauen, passt einfach nicht. Auch in anderen Bereichen ist das MST auf Contra eingestellt: bei den Agrargiften, der Patentierung von Saatgut, Monokulturen, Monopolen, Zentralisierung statt regionaler Kreisläufe, Bodenerosion, Abholzung etc. etc. Und wird zukünftig dabei nicht mehr mitmachen. Für die großen Kooperativen der Bewegung ist das teilweise eine Umstellung, die erfolgreich begonnen wurde. So ist zum Beispiel der größte brasilianische Produzent von Bio-Reis eine Kooperative des MST aus Rio Grande do Sul. Die Kooperativen sind das Herzstück der Bewegung. Ihnen gelang zusammen mit dem MSTLeitungsteam aus den einzelnen Bundesstaaten auch die logistische Meisterleistung, die 15.000 Teilnehmer eine Woche lang mit ihren eigenen Produkten zu ernähren. Eigene LKW´s der Kooperativen aus allen Landesteilen brachten Maniok, Reis, Bohnen, Melonen, Gemüse, Milch, Honig, Brot, Säfte, alles „Früchte der Agrarreform“. Und die Komitees aus den Bundesstaaten kochten auf kleinen Herden und in riesigen Töpfen zweimal täglich für alle Teilnehmer. Geschlafen wurde in kleinen Zelten rund um die Sportarena herum, aufgrund der hohen Disziplin und Rücksichtnahme unter den Teilnehmern und dem Mitwirken aller bei den täglichen Aufgaben klappte alles bestens und das „Lager“ bliebt hygienisch und sauber, wurde (zu unserem Lager und) ein wichtiges Element in der Geschichte des MST. Eine organisierte Zivilgesellschaft kann positive Veränderungen schaffen, das MST ist der beste Beweis dafür.
Erschienen in „unabhängige Bauernstimme“ (ABL) und im „Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft Brasiliensolidarität der DGB/Mannheim“.